Erinnerungen an den 21. September 2020

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Der Abend dieses Tages bestärkte in mir das Gefühl: Es war etwas Besonderes passiert. Das Besondere bestand aus vielen kleinen Einzelheiten, die ich in den vergangenen vier Tagen in mir sortiert habe. Ich erzähle das aus der Perspektive der Mahnwache auf dem Jorge-Gomondai-Platz in Dresden, an der ich am 21. von 19 Uhr bis 20 Minuten nach 20 Uhr teilnahm.

Am Anfang sagte Bernhard (alle Namen der Beitragenden geändert) einige Worte zu der Unterzeichnung des Städteappells durch den Oberbürgermeister Dirk Hilbert, zu dem er geladen war. Es ist ein Erfolg für die Friedenskräfte in unserer Stadt, der endlich nach dem langen Ringen zustande kam, wahrscheinlich zuletzt durch die Mahnwache 6.-9. August 2020 für Hiroshima und Nagasaki an der Kreuzkirche, auf der die Zweite Bürgermeisterin Annekatrin Klepsch, der evangelische Superintendent Christian Behr und der Friedensbeauftragte der evangelischen Landeskirche Michael Zimmermann versprochen hatten, mit dem OB zu reden. https://www.friedendresden.de/6-9-august-2020-mahnwache-an-der-kreuzkirche-atomwaffen-abschaffen-statt-modernisieren/ und www.dresden.de/de/leben/stadtportrait/europa/netzwerke/mayorsforpeace/mahnwache.php und https://www.infozentrum-dresden.de/mahnwache-fand-deutschlandweite-zuschauerinnen/ Er habe bei der feierlichen Unterzeichnung betont, dass er sich nicht mit der Unterschrift unter das Dokuments begügen werde, sondern in dessen Sinne auch handeln wolle, so der OB. Das wäre eine große Chance für die Friedenskräfte, dies nun aufzugreifen und die nächsten Schritte zu „Dresden – Stadt des Friedens“ in den Diskurs mit der Stadtverwaltung einzubringen, schlug Bernhard vor.

Dann ergriff Herbert das Mikrofon und skizzierte Deutschlands Weg vom Vormärz bis zur Märzrevolution. Zum Hambacher Festes 1832 waren die Forderungen nach nationaler Einheit, Freiheit, Volkssouveränität und einer Verfassung laut geworden. Aber nach der Gründung des Deutschen Reiches (durch Blut und Eisen) stünde die schwarz-weiß-rote Flagge für Restauration, Nationalismus und Aufrüstung, gemeinsam mit und gegen die anderen europäischen Großmächte. Wilhelm II. sei kein Friedenskaiser gewesen. Deshalb hat die schwarz-weiß-rote Fahne auf einer Friedenskundgebung keinen Platz. Herbert bekräftigte die Auffassung von aufstehen Dresden und Umgebung, dass Flaggen auf Friedenskundgebungen generell nicht geduldet werden sollten.

Ole nahm darauf hin das Mikrofon und trug aus dem Gedicht Deutschland. Ein Wintermärchen (1844), von Heinrich Heine, spontan einige Verse aus dem Kopfe vor:

Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.

Claire erinnerte in ihrer Ansprache an das Ökumenische Friedensgebet, das wir zuvor von 17 bis 18 Uhr in der Kreuzkirche besucht hatten. Anlässlich des 75. Jahrestages der Gründung der UN am Ende des 2. Weltkrieges waren etwa 25 Gläubige und Atheisten zum Gebet gekommen. Ich war ernüchtert – das sind ja 0,005 Prozent der Dresdner Bevölkerung, die sich an dieses wichtige Ereignis erinnern wollten. (Die politische Aktivität der übergroßen Mehrheit der Dresdner wird sich in irgendeiner Erregung über die Corona-Maske erschöpft haben, vermutete ich. Soviel zur Lage der Nation, schlussfolgere ich jetzt bitter. Dabei zeigt die Weltfriedensuhr die Größe des Atomkriegsrisikos und die Nähe der Menschheits-Katastrophe wie spät es ist, nämlich 100 Sekunden vor Zwölf.) Nach dem Friedensgebet mit der Ansprache von Elisabeth Naendorf, der katholischen Theologin und Geschäftsführerin des Ökumenischen Informationszentrums (ÖIZ) in Dresden, liefen 12 von uns mit Plakaten „Freiheit für Assange“ von der Kreuzkirche über die Schlossstraße durch das Georgentor über die Augustusbrücke und die Hauptstraße bis zum Gomondai-Platz, ein Kleinbus der Polizei stets an unserer Seite oder hinter uns.

Ein weiteres Thema drehte sich um die Bedrohung der Gesundheit und des Lebens von Julian Assange durch die britische Justiz und Regierung, mit den USA im Rücken, und daran anknüpfend um die Gefährdung und Schwäche der UN und die Missachtung ehemaliger UN Botschafter. Craig Murray hatte wiederholt aus dem Auslieferungsprozess gegen Assange berichtet, eine Stimme für die Weltöffentlichkeit, wenn die dunklen Mächte den schäbigen Prozess am liebsten totschweigen möchten (Your Man in the Public Gallery: Assange Hearing Day 2, …, 17, 18 https://www.craigmurray.org.uk/).

Dann berichtete ich, dass wir drei von zukunftsfaehig mit Leuten von Fridays For Future (FFF) im Klimacamp an der Kreuzkirche wiederholt gesprochen hatten, um uns mit ihnen über die lebensgefährdenden Gegenwartsprozesse zu unterhalten, die von Bedrohung des Klimas und unserer Umwelt über die Kriege und Aufrüstung bis hin zu Gesundheits- und Demokratie-Gefahren leider an ganzes Bedrohungsbündel in unserer multiplen Krise bilden. Wir werden mit den FFF-Leuten und vielen mehr am Freitag, den 25. September, zum Global Climate Strike Day hier in Dresden demonstrieren, was die FFF-Leute sehr begrüßten, vor allem wegen unserem Alter. Wir wollen gegenseitige Information über die vielen Gruppen hinweg, eine Vernetzung, die zu entwickeln ist. Jede und jeder auf der eigenen Strecke und im eigenen Spezialgebiet, aber alle gemeinsam an einem gemeinsamen Strang ziehen – das gute Leben für alle.

Ich hatte nicht gewollt, dass wir nun über alle Einzelheiten reden würden, und mir war es peinlich, dass genau das geschah. Die Redebeiträge zu Fleisch Essen, die Erweiterung unserer grundlegenden Mahnwachen-Forderungen um Klimathemen usw. spielten die Bälle hin und her, scheinbar ohne Ende und manchmal sachlich nicht richtig und nicht gründlich überlegt. Nach einiger Zeit konnte ich mich darauf nicht mehr konzentrieren und verließ die Mahnwache.

Es war ein anspruchsvoller, und in all seiner Widersprüchlichkeit für mich ein gelungener Tag.

Friedrich Naehring

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